Auch in diesem Jahr fand am Starkenburg-Gymnasium eine Zeitzeugenbegegnung mit einer Überlebenden des Holocaust statt. Die über Zoom zugeschaltete Henriette Kretz erzählte hier ihre Geschichte während des zweiten Weltkrieges.
Die heute 87-jährige wuchs mit jüdischen Eltern in der Ukraine auf erlebte schon als kleines Kind, wie sich der Krieg langsam ausbreitete und welche Folgen dies hatte. Zunächst griff dieser nicht unmittelbar in ihren Alltag ein, erst dadurch, dass ihr Vater als Arzt schon zu Beginn des Krieges verwundete Soldaten behandelte, wurde diese Gefahr greifbarer. Später jedoch, als die deutschen Soldaten die Ukraine besetzt hatten, wurden im Zuge der „Säuberungsaktion“ jüdische Familien aus ihren Häusern abgeführt und umgebracht. Auch ihr Wohnhaus, in welchem die Familie zu diesem Zeitpunkt mit einigen anderen, orthodox lebenden, Juden zusammenwohnte, wurde irgendwann von Nazi-Offizieren gestürmt. Durch die Hilfe eines ukrainischen Offiziers konnte Henriette Kretz mit ihren Eltern fliehen, während alle anderen Mitbewohner erschossen wurden, darunter viele Kinder.
Beisammen war die Familie allerdings anschließend nicht – die kleine Henriette versteckte sich in einem Wohnhaus einer fremden Familie und war zu Verschwiegenheit gezwungen.
Dennoch wurde sie irgendwann von einem deutschen Soldaten und einem Zivilisten gefunden und abgeführt und gelangte so als 8-jährige ins Gefängnis, wo sie zusammen mit vielen anderen jüdischen Menschen in eine Zelle gesperrt wurde. Als einzige wurde sie nach einer Weile freigelassen, da es ihrem Vater gelang einen Offizier zu bestechen, und sah so ihre Eltern wieder. Die Familie wurde in ein Ghetto gebracht, wo sie nichts zu essen hatten. Daher wurden sie von einer Familie beherbergt, wo sie erste einige Monate im Keller, später auf dem Dachboden verbrachten. Doch auch hier fanden deutsche Soldaten sie und Henriette konnte als einzige fliehen, während sowohl die Familie, die sie beherbergte, als auch ihre Eltern erschossen wurde. In einem Waisenhaus konnte sie unentdeckt Unterschlupf finden, bis einige Monate später der Krieg vorbei war und sie wieder in die Schule gehen konnte.
Den größten Eindruck hat bei mir die Tatsache hinterlassen, dass es einem Menschen nur durch so viel Glück und Zufälle möglich war, zu überleben. Obwohl man weiß, wie grausam und brutal die Mittel der Nationalsozialisten waren, wird einem erst dadurch bewusst, wie groß das Ausmaß der Vernichtung und wie klein die Chancen aller jüdisch lebenden Menschen waren.
Auch hat es mich ergriffen zu sehen, wie nah diese Vergangenheit doch noch ist. Durch meine Oma (geb. 1935) bin ich bereits mit einem gewissen Bewusstsein gegenüber dem zweiten Weltkrieg ausgewachsen. Dennoch war es immer kaum vorstellbar, dass ein Mensch in einer derart anderen und grausamen Welt aufgewachsen ist und diese Vernichtung miterlebt.
Insgesamt bin ich der Meinung, dass eine solche Zeitzeugenbegegnung nicht mit Aufklärung und Geschichtsunterricht vergleichbar ist. Fakten Zahlen wie „6 Millionen Juden“ werden erst dann viel greifbarer, wenn man eine solche Lebensgeschichte hört. Daher ist die Aufklärungsarbeit, welche viele Holocaustüberlebende leisten unabdingbar und es ist sehr wichtig, dass ihre Geschichten bewahrt und weitergetragen werden, da diese Menschen nicht für immer weiterleben werden.
Aus Scheu und Angst würden wahrscheinlich eher wenige Menschen freiwillig eine solche Veranstaltung besuchen, obwohl viele wissen, wie wichtig das Thema ist. Daher finde ich, dass Zeitzeugenbegegnungen durchaus auch verpflichtend stattfinden sollten.
Muriel Wächter, Jg. 11