Gut und gerne tausend Nachrichten im Klassen-Chat – noch vor der ersten Unterrichtsstunde. Wieder kein Like unter dem eigenen Foto. Er oder sie hat schon gelesen und antwortet trotzdem nicht. Wer Kinder hat, kennt sowas. Auch Lustiges, Peinliches, Ekliges – oder eben nicht. Referent Moritz Becker brachte zahlreiche Eltern in der äußerst gut besuchten Aula der Heppenheimer Martin-Buber-Schule vor Kurzem rund um das Drama Handynutzung und Vertrauen zum Lachen und zum Nachdenken.
Aus dem Abend lässt sich mitnehmen, was alle längst dachten: „Das Internet ist gefährlich.“ Aber Becker verknüpft das mit dem Appell, den Zugang gerade deshalb möglichst früh und begleitet zu ermöglichen. „Vormittags hör ich ganz viel von den Schülerinnen und Schülern – und abends verrate ich das dann den Eltern“, umschrieb der Pädagoge augenzwinkernd sein Pensum. Im Wirken für den niedersächsischen Verein Smiley und unter anderem mit dem bundesweit präsentierten Programm „WhatsApp, Instagram und TikTok: Was geht uns Eltern das an?“ scheint er nach wenig erfüllendem Studieren aufzugehen.
„Es geht auch ohne WhatsApp“, räumt Becker ein, wartet die Zustimmung ab und wirft ein, es sei ja auch lange ohne Kühlschrank gutgegangen. „Aber mit ist halt geiler.“ So, wie die Jüngsten noch keinen eigenen Kühlschrank, Fernseher oder Sonstiges haben, wäre ein Familien-Handy zu Beginn durchaus eine Option. Solange es den Kindern noch nicht unendlich peinlich ist, wenn Mama oder Papa so viel mitkriegen.
Für den Schulverbund Heppenheim, der alle in der Kreisstadt ansässigen Schulen vereint, sprach die Leiterin des Starkenburg-Gymnasiums, Katja Eicke, vorweg von dem, was viele Eltern umtreibt. So viel Freude und Hilfe, gerade während der Pandemie, das Digitale auch bringt: Es bleibt ein Balanceakt, die Potenziale zu nutzen, aber die Gefahren nicht außer acht zu lassen. Die gut besuchte Veranstaltung bilde im Übrigen nur den Auftakt einer Reihe.
Becker stellte auf der Bühne zu Beginn Lisa und Max vor. Zwei Pappkameraden, die doch durchaus zuweilen an die eigenen, eher schweigsamen Teeny-Sprösslinge erinnerten. Und nach und nach Schilder mit Motiven wie Neugierde, Anerkennung und Freiheit erhielten. Auch skizzierte er die Dramatik der frühen Liebe über Max, der ganz genau wisse, dass er Lisa einmal heiraten und mit ihr drei Kindern haben wird. Eine Mischung aus Gelächter, Stöhnen, Augenrollen und Sorgenfalten braute sich im Publikum zusammen, als Becker aufzeigte, was zusammenkommt, wenn die Eltern zum Abendessen rufen und auch noch Aufmerksamkeit verlangen, obwohl Lisa gerade endlich geantwortet und Max ihren Text leider schon gelesen hat. Was sie sieht, weshalb es extrem unhöflich wäre, nicht zurückzuschreiben. Aber scheinbar ist es auch unhöflich, die Eltern und das Abendbrot zu ignorieren. Konventionen und Konflikte, wie sie so ähnlich schon alle Generationen miteinander durchmachten.
Chats machen auch Stress
Die versammelte Eltern-Generation stehe vor der Herausforderung, etwas von enormer Tragweite zu vermitteln, das sie selbst nicht kennt. Stimmt nicht ganz, wenn man bedenkt, dass es Facebook schon im vorvergangenen Jahrzehnt gab. „Facebook ist nicht unbedingt out – aber da sind ja schon die Eltern“, pointierte der Coach. Und Smartphones gab es eben noch nicht. Wie Fluch und Segen der ständigen Verfügbarkeit. Gehänselt wurde auch früher schon, aber netzbasiertes Mobbing nimmt kein Ende.
Gut nachvollziehen lässt sich auch, wie viel Stress zig offene Chats auslösen. Ein Mädchen habe ihm mal die Erkenntnis präsentiert, dass das Handy zwischen Heimkommen und Mittagessen besser in der Tasche bleibt. Sich mit stupiden Videos berieseln zu lassen, entspanne manche. Andere finden in bewusst gewählten Inhalten Inspiration. Eltern sollten unbedingt vermeiden, grundsätzlich abschätzig über Handys und das, was sie zeigen, zu reden. Damit sich die Kinder trauen, zum Beispiel von Gewalt- oder Pornofilmen oder Nachrichten zu sprechen, die sie erhielten, ohne dass sie das wollten.
„Ich erkläre, Sie denken“, hatte der Vater zweiter Töchter als Motto des Abends ausgegeben und schockiert, aber auch gerührt. „Wir haben drei Chats. Einen für die Klasse, einen für Mädchen und einen für coole Mädchen – ohne die da“, die anwesend war, als eine Schülergruppe ihm das berichtete. Eine andere Klasse schreibe nach 19 Uhr nichts mehr im Gruppenchat, weil drei von ihnen dann nicht mehr ins Netz dürften. Niemand möchte egal sein, und nie ist egal, was Andere denken. Das war schon immer so. Bauch- und Feingefühl blieben hilfreich, gab Moritz Becker den Eltern noch mit auf den Weg. Und die Botschaft eines Jungen, die Hoffnung, aber auch neue Realitäten erkennen lässt: „Respekt ist, mit langweiligen Menschen zu reden und gleichzeitig mit interessanten zu chatten.“
Marius Blume
(c) Echo Online, 10.10.23