Heil- und Pflegeanstalt

– ein Ort der Deportation

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Die 1866 gegründete Großherzogliche Heil- und Pflegeanstalt gilt zunächst als Reformklinik, da das Behandlungsprinzip des „non-restraint“ (Verzicht auf Einsatz mechanischer Apparate, wie der Zwangsjacke) verfolgt wird. Doch mit Fortschritt hat die Behandlung der Patienten ab 1933 nur noch wenig zu tun. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten rücken die Heilungsabsichten in den Hintergrund und die systematische Vernichtung von kranken und behinderten Menschen wird in die Tat umgesetzt.

Ab 1934 werden zahlreiche Menschen mit diversen Erbkrankheiten wie zum Beispiel erblicher Blindheit oder schweren körperlichen Missbildungen zwangssterilisiert. Verharmlosend bezeichnet das Regime dies als „Rassenhygiene“. Legitimiert durch das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ werden so bis zum Kriegsende 1945 deutschlandweit über 400.000 Betroffene zwangssterilisiert. Die genaue Anzahl der in Heppenheim durchgeführten Zwangssterilisationen ist jedoch aufgrund fehlender Aufzeichnungen heute nicht bekannt.

Vor allem das jüdische Leben in Heppenheim verändert sich drastisch durch die Herrschaft der Nationalsozialisten. Im Sommer 1938 erlässt das Reichsministerium des Inneren die Anordnung, jüdische Patienten in staatlichen Anstalten gesondert unterzubringen. So will man der „Gefahr der Rassenschändung“ entgegenwirken. Auch hier fehlen entsprechende Aufzeichnungen zur Umsetzung in der Heppenheimer Landesheil- und Pflegeanstalt. Noch perfider wird die Entmenschlichung der jüdischen Mitbürger als sie noch im selben Jahr einen Zwangsfamilien- und Vornamen annehmen müssen. Von nun an heißen alle Juden Israel und alle Jüdinnen Sara, bis auf Pfleglinge, die ohnehin schon einen typisch jüdischen Namen tragen. Dies betrifft in der Heppenheimer Anstalt 12 von 14 jüdischen Patienten und Patientinnen.

Nach jahrelanger Diskriminierung kommt es im Sommer 1940 im Rahmen der „Aktion T4“ zu den ersten gezielten Ermordungen der jüdischen Pfleglinge. Heute ist den meisten diese „Aktion“ als „Euthanasie“ bekannt. Zynisch kann dies als „schöner Tod“ übersetzt werden. Diese verharmlosende Bezeichnung wird den grausamen Verbrechen der Nationalsozialisten an Alten, Kranken und Juden natürlich nicht gerecht.

Zur Erfassung der Patienten müssen die Anstalten sogenannte Meldebögen ausfüllen. Von der „Euthanasiezentrale“ sind vier Gruppen an Patienten festgelegt, welche gemeldet werden müssen. Dazu zählen psychisch Kranke, deren Arbeitskraft eingeschränkt ist, sowie Patienten, welche sich seit mindestens fünf Jahren in der Anstalt befinden oder als kriminelle Geisteskranke verwahrt werden. Die vierte Gruppe beinhaltet alle Menschen, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen oder artverwandten Blutes sind. Dabei wird nicht nach Krankheitsgrad oder Arbeitsfähigkeit selektiert; für das Regime ist die jüdische „Rasse“ Grund genug. In Heppenheim betrifft dies 287 Patienten, darunter 24 jüdische Pfleglinge. Die Betroffenen werden zunächst in Zwischenanstalten verlegt und schließlich nach Hadamar, eine Tötungsanstalt in Nordhessen, deportiert. Erst nach Wochen erfahren die Angehörigen vom Tod ihrer Liebsten. Diese seien an einer „Lungenentzündung“ oder „Kreislaufschwäche“ verstorben.

Ab 1941 fungiert die Landesheil- und Pflegeanstalt Heppenheim selbst als „Sammelanstalt“ für die Deportation nach Hadamar. Juden aus weiten Teilen Deutschlands, wie zum Beispiel aus Weinheim oder auch aus Konstanz, werden nach Heppenheim gebracht, um hier auf den Weitertransport in den Tod zu warten. Auch hier ist die genaue Anzahl der sich im Sammellager befindenden Juden ungenau. Am 4. Februar 1941 erfolgt schließlich der Abtransport sämtlicher jüdischer Kranker, durchgeführt von der „Gemeinnützigen Krankentransportgesellschaft“. Die Todesnachricht erhalten die Angehörigen aus einer bereits nicht mehr existierenden Irrenanstalt in Polen. Zusätzlich müssen sie die gesamten Pflegekosten, welche weit über den tatsächlichen Todestag hinaus berechnet wurden, zahlen.

Nachdem alle Juden in deutschen Heil- und Pflegeanstalten das gleiche Schicksal ereilt hatte, dürfen psychisch erkrankte Juden nur noch in der jüdischen Anstalt Bendorf-Sayn untergebracht werden. Von dort aus werden sie 1942 in Vernichtungslager deportiert. Die veröffentlichte Anzahl von mindestens 1.000 jüdischen Opfern der nationalsozialistischen Krankenmorde erscheint heute deutlich als zu gering, wenn man berücksichtigt, dass allein aus der „Sammelanstalt“ in Heppenheim über 100 Juden verschleppt wurden.

(Text von Lara Beller und Leoni Knapp, beide Abitur 2023)

Mit Unterstützung des Museums und Stadtarchivs Heppenheim sowie des Fördervereins des Starkenburg-Gymnasiums.