Am ehesten noch in der Sport- und Fan-Kultur findet ein schwarz-rot-goldenes Bekenntnis zur eigenen Nation Akzeptanz. Und seit Jahrzehnten gestehen weite Teile der Politik der deutschen Bevölkerung einen Verfassungspatriotismus zu.
Die Massen bewegt der 23. Mai gleichwohl nicht, doch vor inzwischen einem Dreivierteljahrhundert, nämlich 1949, trat mit dem Ende dieses Tages das Grundgesetz in Kraft, dem alle heutigen Freiheiten zu verdanken sind. Diese Zeitung hat sich in Heppenheim umgeschaut und erkundigt. Die örtlichen Spitzen der auf Bundesebene regierenden Ampel erklären wie Stadt und Schulwesen, ob etwas geplant ist, um der Gründung der Republik zu gedenken, und inwiefern das Datum bewegt.
Wie berichtet, nimmt das Heppenheimer Geschichtsforum an diesem geschichtsträchtigen Tag seinen Auftakt. Mit einem Thema, das schon vor 75 Jahren die Gründerväter und wenigen -mütter umtrieb. Auf den allgemeingültigen Satz „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ folgt in Absatz zwei von Artikel drei des Grundgesetzes erweiternd und präzisierend: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Kerstin Wolff vom Archiv der deutschen Frauenbewegung in Kassel beleuchtet, wie dieser Schlüsselsatz Berücksichtigung finden konnte.
Ein Bericht zu ihrem Vortrag, am Donnerstag ab 18 Uhr im Marstall des Kurmainzer Amtshofs, folgt. Gern hob die Stadt auf diesen ab, und sie betonte gegenüber dieser Zeitung: „Als Kommune ist für Heppenheim besonders der Artikel 28 Absatz 2 von großer Bedeutung. Dieser regelt die Selbstverwaltung ohne staatliche Eingriffe und die finanzielle Eigenständigkeit der Stadt. Hierauf weisen wir Bund und Land gerne hin.“
Weiteres ist städtisch nicht geplant, aber auch das Starkenburg-Gymnasium Heppenheim will das gebotene Erinnern, Würdigen und Ermahnen nicht einfach auslassen. Schulleiterin Katja Eicke zufolge soll es eine kleine interne Aktion geben, bei der Mittelstufenschüler und Oberstüfler des Kurses Politik und Wirtschaft Schilder aufhängen: Diese zeigen die über Grundrechte und Staatsstruktur grundlegenden ersten 20 der 146 Artikel des Grundgesetzes.
„Das Grundgesetz ist das wichtigste demokratische Instrument unserer Gesellschaft“, betont Eicke. Bei aller Bedeutung von individueller Freiheit und Positionierung, aber auch verbreitet zunehmendem Ego-Zentrismus „muss immer wieder deutlich gemacht werden, dass wir als Gemeinschaft auf einer gemeinsamen Grundlage stehen.“ Sie vertraue darauf, dass Demokratinnen und Demokraten „diese Grundlagen verteidigen“.
Das Grundgesetz jeden Tag würdigen
Heppenheims SPD-Vorsitzendem Benjamin Liesenberg fehlt neben allen Verpflichtungen und zwei kleinen Kindern „leider die Zeit, um den Tag so zu würdigen, wie er es verdient hätte. Jedoch würdige ich unser Grundgesetz jeden Tag.“ Das lebe er etwa durch Redefreiheit, politisches Engagement und die „Gewissheit, dass meine Kinder einmal das machen können, was sie wollen, und sein können, was sie wollen.“ All das als selbstverständlich zu erachten, sei normal, aber kann sich als trügerisch erweisen. Wobei er „keine direkte, akute Bedrohung unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ sieht. „Für mich ist diese Gefahr eher abstrakt, aber dennoch latent. Gerade das veränderte politische Klima und die weitere Entwicklung bereiten mir Sorgen.“
Wenn Extrema salonfähig und so enttabuisiert würden, verrücke das etwas. „Deshalb ist es für mich wichtig, dass in der Politik kein Populismus genutzt wird und man fair und ehrlich miteinander umgeht.“ Nicht nur Liesenberg „bedeutet es als Funktionsträger in der Lokalpolitik viel, mich durch die Möglichkeiten, die uns unser Grundgesetz gibt, einzubringen.“
Der örtliche Vorsitzende der in Heppenheim nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeten FDP, Oliver Wilkening, konstatiert: „Dass das Grundgesetz jetzt seinen 75. Geburtstag feiert und dieses Ereignis mit ganz verschiedenen Veranstaltungen gewürdigt wird, halte ich für mehr als angemessen und äußerst wichtig.“ Er würde sich allerdings „mehr gelebtes Grundgesetz wünschen“. Die gegenwärtige Demokratie sei als wehrhaft konzipiert.
„Wichtig sind Menschenwürde, Achtung der Meinung anders Denkender, Gewaltenteilung. Hier mag ich besonders die Rechtsstaatlichkeit hervorheben.“ Wie in anderen europäischen Ländern sei Letztere auch hierzulande Angriffen ausgesetzt. Verfassungsänderungen sind schwierig, aber möglich.
„Vielleicht habe ich unrecht, und vielleicht hast Du recht. Aber wir können auch beide unrecht haben“, zitiert Wilkening den Philosophen Karl Popper im Werben für mehr Respekt. Gerne helfe er bei der Verteidigung des Grundgesetzes, in dem er „eine Anerkennung der Prinzipien des Liberalismus“ sieht.
„Sicherheit und Frieden sind keine Selbstverständlichkeit”
„Das Grundgesetz ist die Wiege unserer Demokratie“, hebt Grüne-Vorsitzender Martin Fraune und damit die unantastbare Menschenwürde (Artikel 1) als „Basis allen gesellschaftlichen Handelns“ hervor.
Gerade „in dieser Zeit der Krisen.“ So erinnert der vielseitig gesellschaftliche Engagierte an den Überfall Russlands auf die Ukraine und das Erstarken des rechten Randes in Europa. „Sicherheit und Frieden sind keine Selbstverständlichkeit. Die hunderttausenden Menschen, die für Demokratie und gegen Rechtsextremismus, auch im Kreis Bergstraße, im Frühjahr 2024 auf die Straßen gegangen sind, zeigen, was möglich ist, wenn wir zusammenstehen.“
Auch, das betont Fraune abschließend, „wenn es mitunter unbequem ist“. Ähnlich wie die Politiker, unterstreicht Eicke durch ihre Rolle: „Als Schulleiterin stehe ich jeden Tag dafür ein, dass wir mit zahlreichen Ansätzen die Demokratie fördern und den extremistischen Bewegungen in unserem Land mit gebildeten und starken jungen Menschen erfolgreich begegnen.“
(c) Bergsträßer Anzeiger, 23.05.24